Afrikas Binnenmarkt im Fokus: Perspektiven für europäische Firmen

Blog Image
Profile Image
Dario Küttel
April 8, 2025
FacebookInstagram
Wirtschaft

Als die African Continental Free Trade Area im Januar 2021 offiziell den Betrieb aufnahm, war dies mehr als ein wirtschaftspolitischer Meilenstein für den afrikanischen Kontinent – es war ein geopolitisches Signal. Mit der Vision, den fragmentierten Binnenmarkt von 55 Ländern zu einem einheitlichen Handelsraum zu formen, markierte AfCFTA den Versuch, kolonial hinterlassene Bruchlinien zu überwinden und ein neues wirtschaftliches Selbstverständnis zu etablieren. Für europäische Unternehmen, die jahrelang Afrika durch die Brille von Rohstoffen, Entwicklungshilfe oder geopolitischer Randlage betrachtet haben, eröffnet sich eine strategische Neupositionierung. Wer jetzt nicht handelt, riskiert, von China, der Türkei oder Indien überholt zu werden.

Der geopolitische Moment Afrikas – und Europas verpasste Chancen

Afrika ist in Bewegung, doch viele europäische Unternehmen verharren in einem Entwicklungshelferdenken des 20. Jahrhunderts. Dabei sprechen die Fakten eine andere Sprache: Der afrikanische Binnenhandel, der bislang bei mageren 16 % liegt (zum Vergleich: in Europa liegt dieser bei über 60 %), soll durch AfCFTA auf über 33 % steigen – eine Verdopplung, die durch sinkende Zölle, harmonisierte Produktstandards und einen digitalen Zollabgleich ermöglicht wird. Laut der African Export-Import Bank (Afreximbank) könnte die AfCFTA mittelfristig das BIP des Kontinents um bis zu 450 Milliarden US-Dollar erhöhen und 18 Millionen neue Jobs schaffen. Das ist nicht nur ein Binnenprojekt – es verändert Afrikas Verhandlungsposition nach außen.

Für europäische Unternehmen bedeutet das: Wer Afrika bislang vor allem als Rohstoffquelle oder günstigen Absatzmarkt betrachtete, verpasst die Chance, Teil eines neuen ökonomischen Narrativs zu werden. Während Frankreichs TotalEnergies sich weiter auf den fossilen Sektor in Mosambik und Algerien konzentriert, investieren Chinas BYD und Indiens Tata in Elektromobilität und digitale Infrastrukturen in Ghana und Nigeria. Europa zögert – und verliert.

Nigeria, Südafrika, Kenia: Afrikas neue wirtschaftliche Schwergewichte

Ein Blick auf einzelne Länder zeigt, wie sich unter AfCFTA bereits neue Knotenpunkte afrikanischer Wertschöpfung herausbilden. Nigeria, mit über 220 Millionen Einwohnern und einem rasant wachsenden digitalen Finanzsektor, wird zunehmend zu einem Magnet für Start-up-Investitionen. 2024 meldete das nigerianische Fintech-Unternehmen Flutterwave, dass es seine Expansion auf 15 weitere afrikanische Märkte vorbereitet – basierend auf der regulatorischen Harmonisierung durch AfCFTA.

In Südafrika nutzen lokale Unternehmen wie Shoprite oder MTN die neuen Handelsrouten, um effizienter in Nachbarländer zu liefern. Kenia wiederum positioniert sich als ostafrikanisches Tech-Zentrum. Das „Silicon Savannah“ rund um Nairobi hat nicht nur Investoren wie Google oder Visa angezogen, sondern profitiert auch von zollfreien Exportunternehmen in die Mitgliedsstaaten – 2023 gingen bereits 38 % der kenianischen Exporte in AfCFTA-Partnerstaaten, Tendenz steigend.

Die EU-Handelspolitik – zwischen inkohärentem Engagement und strategischem Nachteil

Während die EU in Brüssel ihre Global-Gateway-Initiative mit 150 Milliarden Euro für Afrika anpreist, bleiben diese Versprechen oft hinter geopolitischer Rhetorik zurück. Denn faktisch werden afrikanische Staaten durch Economic Partnership Agreements (EPAs) auf bilaterale Abkommen fragmentiert, was den paneuropäischen Zugang zum nun entstehenden afrikanischen Binnenmarkt erschwert. Die EU-Handelspolitik agiert nicht nur asynchron zum AfCFTA-Projekt, sie untergräbt es in Teilen. Statt auf multilaterale Kooperationen zu setzen, dominieren asymmetrische Strukturen, die wenig Raum für Co-Creation lassen.

Gerade deutsche und schweizerische Unternehmen sind hier gefragt, eigene Wege zu gehen. Der „Team-Europe“-Ansatz mag politisch sinnvoll sein, ökonomisch ist er oft zu langsam. Erfolgreich sind jene Unternehmen, die lokal verankerte Joint Ventures eingehen, wie etwa die deutsche Firma BioNTech, die in Ruanda eine mRNA-Produktionsstätte aufbaut – ein Beispiel für Technologie-Transfer statt nur Marktöffnung.

Infrastrukturlücken als Investitionschancen

Die AfCFTA ist ein Versprechen – doch ohne physische und digitale Infrastruktur bleibt es Stückwerk. Allein die Logistikkosten innerhalb Afrikas sind laut African Development Bank (AfDB) dreimal höher als in Südostasien. Marode Straßennetze, fehlende Zollintegration und schwache Schieneninfrastruktur behindern den intra-afrikanischen Handel. Für europäische Unternehmen, besonders im Bereich Logistik, Transporttechnologie und digitaler Zollplattformen, eröffnet sich hier ein Milliardenmarkt.

Ein Beispiel: Die in der Schweiz ansässige Logistikfirma Kühne+Nagel baut aktuell mit einem lokalen Partner ein multimodales Distributionszentrum in Tansania auf, um Warenströme effizienter über den Hafen von Dar es Salaam nach Ruanda und Burundi zu leiten. Infrastruktur wird zum geopolitischen Hebel – nicht nur zur Effizienzsteigerung, sondern auch zur Positionierung als vertrauenswürdiger Partner.

Digitale Integration: Afrikas stille Revolution

Weniger sichtbar, aber nicht weniger dynamisch ist der digitale Schub, den AfCFTA durch Projekte wie das Pan-African Payment and Settlement System (PAPSS) erhält. Dieses System ermöglicht erstmals länderübergreifende Echtzeit-Zahlungen in lokalen Währungen – ein Gamechanger für KMUs, die bislang durch Dollarabhängigkeit und hohe Transaktionskosten gehemmt wurden.

Für europäische Fintechs, Digitalbanken und Blockchain-Unternehmen ergibt sich hier ein völlig neuer Markt. Besonders Luxemburgische und Schweizer Anbieter, die sich auf RegTech und Compliance spezialisiert haben, können regulatorisch komplexe, grenzüberschreitende Zahlungslösungen liefern. Das erfordert aber kulturelles und strategisches Umdenken: Nicht Afrika adaptieren, sondern mit Afrika ko-kreieren.

Risiken und Realitäten: Korruption, Instabilität, Regulierungsunsicherheit

Natürlich birgt AfCFTA nicht nur Chancen, sondern auch substanzielle Risiken. Die politische Instabilität in Ländern wie Sudan oder Äthiopien, die Bürokratien in Nigeria oder die außenpolitischen Spannungen im Sahel zeigen, dass ein einheitlicher Markt nicht automatisch Stabilität bringt. Zudem besteht die Gefahr, dass mächtige nationale Interessen – etwa Nigerias protektionistische Agrarpolitik oder Südafrikas Gewerkschaftsblockaden – den Integrationsprozess verlangsamen.

Für europäische Unternehmen bedeutet das: Risikomanagement wird zur Kernkompetenz. Wer in der Lage ist, komplexe politische Landschaften zu navigieren, strategische Allianzen mit lokal verankerten Partnern einzugehen und nicht nur auf „Top-Down“-Government-Deals zu setzen, wird überdurchschnittlich profitieren. Unternehmen wie Siemens oder ABB machen es vor – mit langfristigen, lokal eingebetteten Projekten, oft gemeinsam mit afrikanischen Universitäten und Entwicklungsbanken.

Konkurrenz schläft nicht: China, Indien und die Türkei sind längst da

Der vielleicht deutlichste Weckruf für europäische Unternehmen ist die Geschwindigkeit, mit der andere geopolitische Akteure AfCFTA für sich nutzen. Chinesische Exporte nach Afrika stiegen 2023 auf 164 Milliarden US-Dollar – eine Verdopplung innerhalb von zehn Jahren. China ist nicht nur Bauherr von Bahnstrecken in Kenia oder Hochspannungsleitungen in Angola, sondern auch Teilhaber an digitalen Plattformen, Telekommunikationsinfrastruktur und Industrieparks.

Indien wiederum hat 2024 ein spezielles Afrika-Programm zur pharmazeutischen Kooperation aufgelegt, mit Produktionsstätten in Nigeria und Senegal. Die Türkei verfolgt eine aggressive Außenwirtschaftspolitik in Westafrika, insbesondere in der Baubranche. Diese Länder liefern nicht nur Produkte – sie liefern Narrative, Präsenz und Visionen.

Europa hingegen wirkt oft wie ein zögerlicher Besucher, der seine einstige Vormachtstellung als Eintrittsticket begreift – während andere längst Tür an Tür Geschäfte machen.

Fazit: Vom Markt zum Partner – Europas Zukunft hängt an Afrikas Integration

AfCFTA ist kein Versprechen auf „einfachere“ Geschäfte in Afrika, sondern auf komplexere, aber gleichberechtigtere. Europäische Unternehmen, die bereit sind, Afrika nicht nur als Absatzmarkt, sondern als Innovationspartner zu sehen, stehen am Anfang eines epochalen Transformationsprozesses. Die demografische Entwicklung – 2,5 Milliarden Menschen bis 2050 – gepaart mit wachsender Urbanisierung, Digitalisierung und ökonomischer Integration macht den Kontinent zum Schlüsselraum der globalen Wirtschaft im 21. Jahrhundert.

Doch das Zeitfenster für kluge Positionierungen schließt sich. Wer heute die Chance ignoriert, könnte morgen Zuschauer eines Spiels sein, in dem andere längst den Takt angeben. Es geht nicht mehr darum, ob europäische Unternehmen sich in Afrika engagieren sollten, sondern wie: mit Respekt, Mut, Geduld – und der Fähigkeit, nicht nur Gewinne, sondern auch gemeinsame Zukunft zu teilen.